Home Der Göttinger ELCH
Ausgezeichete Elche:
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1997 Chlodwig Poth
1999 Robert Gernhardt
2000 Gerhard Polt
2001 Harry Rowohlt
2002 Marie Marcks
2003 F.W. Bernstein
2004 Emil Steinberger
2005 Otto Waalkes
2006 Hans Traxler
2007 Ernst Kahl
2008 Biermösl Blosn
2009 Helge Schneider
2010 Olli Dittrich
2011 Josef Hader
2012 Franziska Becker
2013 Michael Sowa
2014 Georg Schramm
2015 Rudi Hurzlmeier
2016 Max Goldt
2017 Gerhard Gläck
2018 Pit Knorr und Wiglaf Droste
2019 Gerhard Haderer
2021 Maren Kroymann
2022 Eugen Egner
2023 Rainald Grebe
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Ernst Kahl

Auf dem Hochsitz

Eva und Ferdinand halten einander fest bei den Händen und blicken hinunter. Im sanften Lichte zunehmenden Mondes, vor dunkler Tannenschonung deutlich sichtbar, steht Elk, der kapitale Schaufler und schnaubt Dampf in den Nachthimmel. Bröaarr, Bröaarr! Bröaarr, Bröaarr hallt es zurück vom nahen Haff und läßt die Geschwister schaudern. Es ist sein in Stimme und Atem unverwechselbares Brunftsignal, das Elk immer und immer wieder intoniert. Und er bleibt nicht ungehört. Schon rascheln im Unterholz die Blätter, Äste knacken. ... "Da!" Förster Naujoukatter wirft einen spitzen Blick hinüber zum Bukenbruch: "Dort! Elke, die Elin! Sie tritt aus!" Aufgeregt preßt Ferdinand seinen kleinen Feldstecher an die Augen. Ja, jetzt sieht er sie ganz deutlich Atzung zupfen und sich tänzelnd dem Brunftkreis nähern.

"Jung ist sie, sehr jung ... ein Schmaltier", flüstert der Alte mit erregter Stimme: "Ihr erster Sommer."

"Und soll schon jetzt ...?", stottert Eva.

"Und wird bald die endlose Kette, von der sie doch nur ein winzig unscheinbares Glied ist, weiterreichen in ferne Elchengeschlechter", erwidert der Alte, wobei er sich über die Brüstung hängt und prüfend schnuppert. Dann schaut er mit hochgezogenen Brauen auf die erwartungsbangen Kinder: "Riecht ihr`s? Sie ist bereit! Sie ist bereit, sie hat geschwefelt, die Witterung liegt in der Luft!"

Nach kurzer Unruhe im Krüppeleichenhain unter dem Hochsitz wechselt ein Rudel junger Igelrüden schnellen wie geräuscharmen Schrittes hinüber zur Fuchsbauanhöhe, des besseren Überblicks wegen. Schon lodert die Flamme des Elks und schießt aus ihm heraus, so rot wie das Laub der Blutbuche im Herbst und versengt das Gras mit der Sonnenglut von Deutsch-Südwest.

Ängstlich schmiegen sich die Geschwister an den milde lächelnden Förster. "Aber, aber", brommt der alte Naujoukatter begütigend, "wer wird sich denn fürchten? Für die da unten ist das ganz normal." "Ich weiß nicht", murmelt Eva, "wenn das Liebe sein soll ..."

"Psst!" zischt der Alte und deutet erregt hinunter: "Die Hackanatz beginnt!"

Elk hat jetzt die frische Fährte, auf der die Elin vom Bruch hin vor den Busch gezogen. Den Windfang tief im Boden, folgt er der Spur. Plötzlich hält er im Furchen inne und verharrt mit bebenden Nüstern. Hier hinterließ sie eine besonders benebelnde Witterung. Elk keucht und wieder lodert seine Flamme und schießt feurig fordernd aus ihm heraus, wild zuckt das ungestüme Tiergeschlecht.

"Achtung!" flüstert der Förster, "gleich wird er sich parfümieren."

Elk schaufelt wie besessen in den Grund, mal mit dem linken, dann wieder mit dem rechten Vorderlauf, und bald ist eine Grube entstanden.

Breitläufig steht er über ihr und näßt Brunftwasser in die Vertiefung. Dann taucht er stöhnend ein, um sich hin und her zu wälzen.

Elk ist in Trance, betäubt vom Geruch des eigenen Brunftwassers wirbelt sein Wollen nur um das Eine. Wankend stakt er hinaus, umwabert von beißenden Schwaden. Die schweben ihm voraus, scharf wie Pantherharn, und ihre Bedeutung versteht jede Kuh. So auch Elke. Im Dunst der Brunft verliert sie alles jungfräulich Spröde. Sie hebt den Spiegel und gestattet Elk einen Blick in ihr obergäriges Heiligtum. Er springt, will seine Flamme löschen in der tropfenden Frucht, will aufbocken, pfählen ...

"Er präsentiert das Gewehr", ergriffen legt der Förster die Hand an die Mütze, salutiert. Aber auch der taube alte Nachtgreif auf dem Granitfindling nimmt, nachdem er kurz das Gefieder gelupft, räuspernd Haltung an und kramabüxiert.

Elk rutscht ab. Hinten ausschlagend, tänzelt die Auserwählte einige Meter weiter, wirft kokett den Kopf zurück und stößt mal schmachtende, mal drohende Laute aus, die die Kinder so nie gehört. Nur Elk, der Erfahrene, kennt die Bedeutung des Onäh Onäh und antwortet mit markerschütterndem Brööaaarrr und kniet nieder zum allesentscheidenden Rennen. Jetzt läßt der Förster einen Schuß aus der Büchse, worauf Elk sich nach vorn katapultiert und mit der Brauthatz beginnt, gefolgt vom mittelstreckenstarken Igelrüdenrudel. Auf dem Hochsitz löst sich die Spannung, aber die kleine Gesellschaft wird erst richtig munter, als Förster Naujoukatter eine Thermosflasche aus dem Rucksack zieht und heißen Malventee in die Plastolintassen gießt, die ihm die Kinder entgegenhalten. "Was nun geschieht? Das wollt ihr doch wissen?" fragt er augenzwinkernd. "Nun, er wird sie bald sakrutieren, und dann wird Elk tagelang bei Elke stehen und nicht von ihrer Flanke weichen. Er wird sie sich untertan machen, wie`s seiner Art altehernes Gesetz ist, und sie wird sich fügen wie zuvor die anderen, die ängstlichen Schmaltiere und die erfahrenen Alttiere, die Kälberführenden und die Kälberlosen, die Dick- und die Magereutrigen. Und da Elke ebensolch gute Anlagen hat wie Elk, wird sie nach neun Monaten ihr erstes Kalb setzen, und", der Förster zwickt der kleinen Eva neckend in die Wange, "um das brauch uns dann nicht bange sein!"

Aus: Und ewig brüllts in den Wäldern. Königsberg 1905
(Aus : Ernst Kahl - Das letzte Bestiarium Perversum)